Wasserwege zwischen Ems und Hunte: von Leer nach Oldenburg durchs Leda-Jümme-Gebiet
Es war der Umschlagpunkt zwischen Ebbe und Flut zur Mittagszeit an einem ganz normalen Donnerstag, der die Besonderheit der Wasserwege dieser Radtour sichtbar, hörbar und eindrucksvoll erlebbar machte. Es war ungewohnt und seltsam, denn es war nicht am Meer, an der Nordsee, wo man dies im sechsstündigen Wechsel so selbstverständlich erwartet wie das Auf- und Untergehen von Sonne und Mond. Nein, es war im Landesinneren, wo die Jümme in die Leda mündet, bevor diese einige Kilometer weiter bei Leer in die Ems fließt.
Gezeitenwende im Fluss
Zuerst konnte man sehen und hören, wie das Wasser mit für Tieflandflüsschen ganz ungewöhnlicher Schnelligkeit Richtung Ems und Nordsee strömte, in munteren Wirbeln gurgelnd und glucksend. Äste, Zweigwerk und zu flachen Placken zusammengeballtes Heu schwammen flott vorbei. Wir warteten dort, an der Pünte Wiltshausen, auf die älteste handbetriebene Fähre Deutschlands. Tidebedingt, so hieß es auf einer Tafel, führe die nächste Fähre um 12.25 Uhr. Jetzt war es kurz vor zwölf. Auf einer der hölzernen Bänke, die dort für die Wartenden am Ufer aufgestellt sind, hatten wir uns niedergelassen.
Dann war es plötzlich still. Kein Gurgeln, kein Gluckern mehr. Der Heuplacken drehte sich nur noch sehr langsam um sich selbst. Schließlich, nach dem Moment der Stille, änderte er die Richtung: begann, flussaufwärts zu schwimmen, so wie auch Äste, Stöcke und Zweige uns wieder entgegentrieben. Der Umschlagpunkt zwischen Ebbe und Flut. Langsam, aber unaufhörlich drückte die auflaufende Flut das Flusswasser zurück. An den Uferrändern konnte man deutlich sehen, wie das Wasser emporstieg und das Süßwasserwatt überschwemmte.
„Hol über!“ mit Ruhe und in Handarbeit
Schon ertönte eine Glocke vom gegenüberliegenden Ufer, wo vor einigen Minuten ein Motorrad angeknattert gekommen war. Der ältere Fährmann und sein jüngerer Gehilfe machten sich und ihr Wassergefährt startklar. Die Fähre ist ein langgestreckter, flacher Prahm, der entlang des starken Taus, das von einem zum anderen Ufer gespannt ist, per Hand gezogen wird. Die Männer tragen dabei keine Handschuhe, sondern führen das Tau durch die Einkerbung eines hölzernen Werkzeugs, ziehen, greifen nach, ziehen, greifen nach, setzen das Werkzeug neu an, ziehen. Wie viel Meter Wasser sind da jetzt wohl unter dem Boot, frage ich den Fährmann. An dieser Stelle sind es um diese Zeit etwa vier Meter, erhalte ich bereitwillig Auskunft, und bei hoher Flut kommen da noch mal vier bis sechs Meter dazu.
Zwei Euro kostet die Überfahrt pro Person mit Rad. Ein großes Abenteuer für kleines Geld.
Die Idee zur Tour
Aber beginnen wir am Anfang: Am Anfang stand der Wunsch, auf einer gemütlichen 2-Tages-Radtour – mit Zeit und Muße für Zwischenstopps – die wasserreiche Landschaft zwischen Hunte und Ems zu erkunden. Auch ohne E-Bike unangestrengt, gern in Flussnähe und am liebsten von West nach Ost, denn hier oben bei uns bläst der Wind nun mal meist von Westen.
Da bot sich in unserer Gegend eben das Flusssystem des Leda-Jümme-Gebiets an mit dem bemerkenswerten Naturschutzgebiet Aper-Tief ungefähr im Zentrum. Die Strecke Leer – Oldenburg mit – je nach Variante – ca. sechzig bis achtzig Kilometern erschien gerade richtig, um zwei Tage ohne Hast, doch mit viel Rast, in Ruhe radelnd zu genießen.
Das System der Fahrradknotenpunkte macht es leicht, die Tour zu planen oder auch nach Lust und Laune oder Wetterentwicklung zu verändern, vorausgesetzt, man hat die passende App aufs Handy geladen oder nach guter alter Art eine veritable Karte dabei. Schnell noch die Trinkwasser Mobil Karte als Favorit auf dem Handy gespeichert, damit unterwegs die Trinkflasche gratis aufgefüllt werden kann. Radeln macht ja bekanntlich durstig.
Mit Bahn und Bike
Von Oldenburg nach Leer bringt einen die Bahn in einer Dreiviertelstunde. Von Juni bis Ende August 2022 bietet das 9-€-Ticket der Bahn eine äußerst günstige Anfahrt. Aber Achtung: Ein Fahrradticket muss extra gebucht werden! Innerhalb von Niedersachsen kommt z. B. eine 5-€-Tageskarte infrage. Platzreservierungen fürs Rad sind bei DB-Regio nicht möglich, hingegen bei der Nordwestbahn-Bahn erwünscht!
Ostfriesland und Ammerland: vom Moor zu Agrarland und Parklandschaft
Der Nordwesten ist von kleineren und größeren natürlichen Wasserwegen durchzogen, darüber hinaus von unzähligen Kanälen, welche die Aufgaben haben, die Moore und das feuchte Land zu entwässern, um diese Flächen landwirtschaftlich, vor allem als Weiden, nutzen zu können.
Moore trocken zu legen und dann industriell abzubauen, um den Torf zu vermarkten, galt einmal als prima Idee, um das Land zu besiedeln, mit dem Torfabbau Arbeitsplätze zu schaffen und letztlich guten Gewinn zu erzielen. Ja selbst die Geschichte der Elektrifizierung ist hier mit Torf als Brennstoff für ein großes zentrales Kraftwerk verbunden.
Heute erkennen wir: Die Moore selbst sind das Wichtige, deren spärliche Reste es als hoch effiziente CO2-Speicher zu erhalten und in Teilen, wo dies möglich ist, wiederherzustellen gilt. „Moorschutz ist Klimaschutz“, so ließe sich das Anliegen der Moor- und Umweltfreunde auf einen einfachen Nenner bringen.
Wer von Leer nach Oldenburg rechts und links entlang der Jümme radelt, nimmt weniger die Moore wahr als die Weite des Himmels und der Wiesen hinter den Deichen, welche die kleinen Flüsse in ihren Betten halten. „Danke, Mädchen! Ihr zaubert aus Gras Milch“ bewirbt ein Landwirt sein wichtigstes hier produziertes Gut, und wir hoffen natürlich sehr, dass seine Kühe tatsächlich auf der Weide stehen und nicht im Stall mit brasilianischem Soja gefüttert werden.
Etwas Heimatkunde zum Leda-Jümme-Gebiet: https://www.dein-niedersachsen.de/regionen/leda-juemme-gebiet/
Von Leer zur Pünte Wiltshausen
Leer ist keineswegs leer, sondern ein hübsches kleines Städtchen mit lebhafter Einkaufszone und einem aus einer beliebten Krimireihe bekannten Hafen. Auch Kunst und Kultur kommen nicht zu kurz, die Tourist-Info am Hafen ist gerne behilflich, um Passendes zu finden. Uns aber zog es in die Natur und so radelten wir zunächst aus Leer hinaus Richtung Evenburg. Lange, an heißen Sommertagen schattenspendende Alleen führen auf das wohlrestaurierte Wasserschloss zu; der sehenswerte englische Landschaftspark besticht mit Teichen voller Seerosen und einigen schönen Durchblicken auf die hellen Mauern und lädt mit zahlreichen Bänken zum still betrachtenden Verweilen ein. Weiter ging es von einem Knotenpunkt zum nächsten, vorbei an einer hochaufragenden Skulptur, die dem Fahrradfahren gewidmet ist, bis zur oben bereits beschriebenen Fähre.
Der Jümme folgend
Hinter der Fähre schlängelt sich nicht nur die Jümme weiter gen Westen, sondern auch die Fahrradroute, mal entlang des Flussdeiches, mal quer durch Wiesen und Weiden, an deren Rändern wir Hasen und Rehe, Wiesenschafstelzen und Kiebitze aufscheuchen. Ja, auch die „Friesische Nachtigall“, das bezaubernde Blaukehlchen kann der aufmerksame Radwanderer entdecken. Schließlich gelangen wir zu Burg Stickhausen. Ein Förderverein hat sich mit viel Engagement des unaufdringlich restaurierten Rundturms und seiner direkten Umgebung angenommen und u.a. mit Tischen und Bänken einen willkommenen Rastplatz geschaffen.
Eine Kolonie Rabenkrähen schafft eine Geräuschkulisse wie bei Hitchcocks Film „Die Vögel“! Weiter geht es, dem aufziehenden Gewitter davonfahrend, am Jümme See entlang – auch dort ließe sich nett einkehren oder baden. Apropos „baden gehen“: Weil der Knotenpunkt 92 auf unserer Karte genau in einer Falz liegt und uns einen Übergang über die Jümme vorgaukelt, den es hier nicht gibt, fahren wir erst einmal falsch, bzw. anders als ursprünglich beabsichtigt.
Zum Naturschutzgebiet Aper Tief
Unsere Fahrt führt uns in einem weit ausgezogenen Bogen immer unterhalb des Deichs an der Jümme entlang, die wir nur ab und an zu Gesicht bekommen, weil die Deichkrone so hoch ist, dass man selten darüber hinweg schauen kann. Wir entscheiden uns, über Barßel auf unsere eigentliche Route zurückzukehren und gelangen schließlich zum Flusslauf Aper Tief: ein kleines, feines Naturschutzgebiet, in dem das Süßwasserwatt noch stark ausgeprägt ist. Mit seinen das Ufer säumenden Schilfgürteln und dichten Weidengehölzen ist es ein Paradies für Entenvögel und Röhrichtarten.
Im Landgasthof Hengstforder Mühle
Am Ende des Aper Tiefs liegt der Landgasthof „Hengstforder Mühle“, unser zuvor ausgewähltes Quartier. Die Hengstforder Mühle besteht aus einem restaurierten Galerie-Holländer (Ursprung 1882), dem angrenzenden Restaurantgebäude und einigen kleineren Häusern mit großzügig geschnittenen und komfortabel hergerichteten Zimmern, wobei die Appartements im Erdgeschoss jeweils eine eigene kleine Terrasse mit Tischen und Stühlen haben. Wenn es nicht gerade gewittert, kann man hier am Abend nach dem Essen oder am Morgen vor dem Frühstück dem Kuckuck beim Rufen, der Amsel beim Singen und den Fröschen beim Quaken zuhören. Es empfiehlt sich, vorab zu reservieren, denn die Mühle erfreut sich, zu Recht, großer Beliebtheit. Wer den Tag über geradelt ist, kann sich am Abend auf ein Apener Ritterbier und am Morgen auf ein reichhaltiges Frühstück freuen, das in der hohen, über zwei Etagen ausgebauten Scheune mit ihren freiliegenden Balken von ausgesprochen freundlichem Personal serviert wird.
Für Familien mit Kindern ist sicher auch das benachbarte Freibad eine Attraktion.
Durchs blühende Ammerland
Hinter dem Aper Tief fahren wir tiefer ins Ammerland. Wenn anfänglich noch Wiesen und Weiden vorherrschen, wechselt die Bewirtschaftung nun deutlich. Das Ammerland ist Baumschulenland und Rhododendronregion. Bäume und Bäumchen stehen im Glied und wachsen in langen Reihen zur Freude ihrer künftigen Besitzer heran, von heimischen Obst- und Formgehölzen über immergrüne Lebensbäume bis zu exotisch anmutenden, asiatischen Ziergewächsen. Die Rhododendren, die manchmal die Nebensträßchen als ganze Hecken säumen, mögen manchem Naturfreund ein Dorn im Auge sein, doch dem farbenliebenden Radler ist ihre üppige Blütenpracht eine Freude, leuchten sie doch in allen Farben vom eleganten Blassgelb über schreiendes Feuerrot bis zu strahlenden Varianten von Lila und Violett.
Zwei sehr unterschiedliche Charakterpflanzen der Tour: Die Schafgarbe ist typisch für die Wiesen- und Feldraine, gern füllen Insekten am Korbblütler ihre Körbchen. Rhododendren gelten als Wahrzeichen der Parklandschaft Ammerland, sie lieben die sauren Moorböden. Anders lautenden Schmähungen zum Trotze werden auch die Blüten dieser leicht giftigen Pflanzen von Pollen sammelnden Wildbienenarten besucht.
Viele Wege führen nach Oldenburg
Auf verschiedenen Wegen kann man nun nach Oldenburg gelangen – über Westerstede und entlang des nördlichen Ufers des Bad Zwischenahner Meeres, über Ocholt und die Gegenden vom südlichen Ufer – aufgepasst zwischen Knotenpunkt 51 und 84, dies ist eine weniger empfehlenswerte von Schlaglöchern durchsetzte Schotterpiste! Schließlich radelt man entlang der Bahnlinie, wo der Woldsee eine gute letzte Gelegenheit bietet, noch einmal auf einer Bank zu rasten oder ein erfrischendes Bad zu nehmen. Der Blick gleitet über das vom leichten Wind gekräuselte Wasser, man lauscht dem sanften Rauschen vom Schilf und lässt sich die Sonne ins sorgsam mit Lichtschutzfaktor 30 eingecremte Gesicht scheinen.
Zwei Tage Auszeit an Leda und Jümme, viel Interessantes gesehen von dem, was den Nordwesten ausmacht und jede Menge Kraft und Frischluft getankt. Zur Nachahmung empfohlen? Aber sicher doch!